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Kreativität und ADHS

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Sehr häufig wird ADHS-Betroffenen ein erhöhtes kreatives Leistungspotenzial zugeschrieben. Wissenschaftliche Untersuchungen zu der Fragestellung, ob es eine Korrelation zwischen ADHS und Kreativität gibt, sind in ihren Ergebnissen noch inkonsistent. Ist aber ein kreatives Potenzial vorhanden, so kann dieses - wenn eine sinnvolle Umsetzung gelingt - eine wichtige Ressource der Betroffenen sein.

Ein in der Selbsthilfe- und Ratgeberliteratur häufig vorgebrachter Aspekt ist ein möglicher Zusammenhang zwischen ADHS und einer besonders ausgeprägten Kreativität.[1][2][3][4][5][6] Auch Kliniker wie Helga Simchen oder Adam Alfred beobachten ein häufig stärker ausgeprägtes kreatives Potenzial bei ADHS-Betroffenen,[7][8][9] wobei die Bewertung und Zuordnung unterschiedlich ausfallen können. Piero Rossi, Russell Barkley und Gina Pera kommentierten die postulierten Zusammenhänge kritisch.[10][11]

Eine hohe kreative Leistung kann eine wichtige Ressource für den Betroffenen darstellen, wenn er in der Lage ist, seine kreativen Impulse in Handlungen zu übersetzen. → Siehe auch: Stärken von ADHS-Betroffenen.

Von Klinikern werden ein erhöhtes kreatives Potenzial oder besonders kreative Phasen auch bei bestimmten anderen psychiatrischen Störungen grundsätzlich für möglich gehalten, zum Beispiel auch in manischen Phasen bei der bipolaren Störung[12] oder bei Schizophrenie.[13] Studien zur Hypothese, dass ADHS und hohe Kreativität häufiger gemeinsam auftreten, sind aktuell allerdings noch selten und die bisherigen Untersuchungen sind in den Ergebnissen inkonsistent. Die augenscheinlich hohe anekdotische Evidenz findet sich bislang nicht in wissenschaftlichen Studien bestätigt.

ADHS und Kreativität

Unter Kreativität werden gemeinhin Leistungen oder Lösungswege verstanden, die innovativ, problemsensitiv, originell, ungewöhnlich und praktikabel, nicht aber zu umständlich sind. Konkretere Konzepte und Operationalisierungen sind zum Beispiel von Guilford und de Bono formuliert worden.[14] De Bono spricht von divergentem Denken, einer produktiven Denkweise, deren Charakteristika ADHS-Betroffenen zumindest in Teilen häufig zugeschrieben wird:

Vor dem Hintergrund des Paradigmas, dass ADHS-Betroffene ein höheres kreatives Potenzial haben, muss bedacht werden, dass das kreative Leistungsniveau negativ mit der Impulsivität korrelieren kann. „Chaotische Gedanken“ allein sind nicht ausschlaggebend für Kreativität - diese kommt erst zum Tragen, wenn die divergierenden Gedanken in einer sinnvollen und nachvollziehbaren Weise (gedanklich oder praktisch) umgesetzt werden.
  • lineare Denkmuster werden umschifft, indem z.B. nach der unwahrscheinlichsten Lösung eines Problems gesucht wird
  • Ausgangssituation und Rahmenbedingungen werden nicht als unveränderbar hingenommen
  • sprunghafte Denkvorgänge und diffuse Assoziationen werden zugelassen, nicht jedes gedankliche Zwischenergebnis muss richtig sein
  • auch auf den ersten Blick nicht durchführbare Lösungen können ein Schritt zum besseren Verständnis des Problems sein
  • gedankliche Abschweifungen können zur Problemlösung beitragen, wenn schließlich der Weg zurück zum roten Faden gefunden wird.

Siehe den Artikel: Divergentes Denken.

Vom kreativen Impuls zum kreativen Ergebnis

Vor dem Hintergrund eines für die ADHS-Symptomatik typischen, impulsiven Erlebens und Denkens ist ein erhöhtes kreatives Potenzial bei ADHS-Betroffenen denkbar. Die Betroffenen weisen häufig eine nicht-lineare, assoziativ gelockerte Denkweise auf,[15] welche die Grundlage bieten kann, bestehende Grenzen zu überschreiten und neue gedankliche Wege zu gehen. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, die kreativen Impulse in konkrete, sinnvolle Handlungen umzuwandeln und Perseveranz und Prokrastination zu vermeiden. Das heißt, die scheinbar „chaotischen Gedanken“ müssen letztlich in eine sinnvolle und nachvollziehbare Bahn gelenkt werden, ohne dabei die Realität aus den Augen oder an Flexibilität zu verlieren. Zudem muss grundlegend ein beständiger Umsetzungsprozess vorhanden sein. Dies macht ein gewisses Maß an Impuls- und Handlungskontrolle erforderlich,[16] das häufig vor allem bei schwer Betroffenen nicht hinreichend ist. Gelingt dem Betroffenen dieser Spagat, so sind in vielen Bereichen, wo Probleme gelöst werden müssen (in der Schule, am Arbeitsplatz), qualitativ hochwertige und beachtenswerte Ergebnisse zu erwarten.

Probleme der sozialen Akzeptanz

Zu beachten ist, dass unkonventionelle Formen der Problemlösung nicht überall und jederzeit erwünscht sind.[17] So kann es sein, dass das an sich gute Arbeitsergebnis eines Mitarbeiters abgelehnt wird, weil die vorgegebenen, linearen Arbeitsprozesse nicht eingehalten wurden, oder weil das Ergebnis trotz guter Qualität zu viele Abweichungen hat. Ungewöhnliche Vorschläge zur Lösung von Problemen können auch den Neid anderer auf sich ziehen.

Ein anderes Beispiel ist ein Schüler, dessen Mathematik-Klausur durchgängig korrekte Ergebnisse aufweist. Letztlich erreicht er aber nur ein „Befriedigend“, weil die geforderten Lösungswege nicht wie vorgegeben vorhanden sind. → Weitere Beispiele für Probleme hinsichtlich divergenten Denkens sind hier zu finden.

Hyperfokus und Flow als Katalysatoren der Kreativität

Csikszentmihalyi postuliert, dass im kreativen Schaffensprozess häufig ein besonderer Bewusstseinszustand auftritt, der einer Art Trancezustand ähnlich ist. Dieser als Flow (oder Hyperfokus) bezeichnete Zustand geht mit einem temporären Verlust des Zeitbewusstseins einher und ermöglicht ein produktives Ineinandergreifen der für den Schaffensprozess wichtigen Faktoren, um die Lücke zwischen dem frei Assoziierten und dem bereits Bekannten auszufüllen, um etwas Sinnvolles zu schaffen.[18]

Siehe den Artikel: Hyperfokus.

Kreativität und Vermeidungsverhalten

Kreative Denkweisen und Lösungswege können zur Aufrechterhatung eines konditionierten Vermeidungsverhaltens oder schädlicher Bewältigungsstrategien beitragen. Die Wirkungsbereiche kreativer Vermeidungsstrategien sind vielfältig. So können sich Betroffene beispielsweise „kreative Ausreden“ einfallen lassen, um konfrontativen oder herausfordernden Situationen aus dem Weg zu gehen, sodass sich die Angst vor der Situation verselbstständigt. → Siehe auch: Prokrastination.

Schwierigkeiten bei der Entfaltung von Kreativität

Kreatives Potenzial sagt kreative Leistungen nicht vorher. Die Entfaltung kreativer Potenziale kann durch (komorbide) psychische Störungen, zum Beispiel Depressionen, Impulse aus der Umwelt, wie etwa Erziehung, Familien- oder Arbeitsklima, einer sehr schwach ausgeprägten Impulskontrollfähigkeit und zahlreichen anderen Wirkfaktoren gehemmt und sogar blockiert werden, wie zum Beispiel de Bono und Kollegen,[19] Gardner[20] und Runco[21] zeigen.

Wissenschaftliche Untersuchungen

Korrelation zwischen ADHS und Kreativität

Die bislang am größten angelegte wissenschaftliche Studie, die eine mögliche Korrelation zwischen ADHS und Kreativität untersuchte, wurde 2006 von White und Shah mit 90 Kindern durchgeführt.[22] Dabei erzielten die ADHS-Kinder signifikant höhere Werte für divergente Denkleistungen als die Kinder der Kontrollgruppe,[23] gleichwohl aber signifikant niedrigere Werte für lineares Denken. Andere Untersuchungen, zum Beispiel von Aliabadi et al. mit 33 Kindern[24] und von Funk et al. mit 40 Kindern[25] fanden keine Korrelation zwischen ADHS und kreativen Leistungen.

Minderung kreativer Leistungen unter Medikation

Es besteht eine hohe anekdotische Evidenz, dass Psychopharmaka wie Methylphenidat (etwa Ritalin) oder Amphetamine die kreativen Leistungen der Patienten herabsetzen.[26][27][28][29][30] Wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Fragestellung lieferten inkonsistente Ergebnisse. Studien von Funk[31] fanden keine Beeinträchtigung bei Kindern, die mit Methylphenidat behandelt wurden, González-Carpio Hernandéz und Serrano Selva[32] bescheinigen eine signifikante Herabsetzung der kreativen Leistungen unter Methylphenidat. Bei Solanto und Wender[33] scorten mit Methylphenidat behandelte Kinder im Gegensatz dazu höher, als unter Placebo. Überraschende Ergebnisse zeigten sich in einer Untersuchung von Farah et al.:[34] Hier scorten junge Erwachsene mit einem hohen kreativen Leistungsniveau niedriger, wenn sie unter Einfluss von Adderall standen, während die Probanden mit einem geringen kreativen Leistungsniveau bei Medikation höher für Kreativität scorten.[35]

Die bisherigen Ergebnisse hinsichtlich der Frage, ob Medikation die kreativen Leistungen von ADHS-Betroffenen herabsetzt, sind, wie ersichtlich, inkonsistent. Darüber hinaus wurden nur vereinzelt klinische Untergruppen und Komorbiditäten berücksichtigt und es handelt sich überwiegend um geringe Fallzahlen.

Kommentare

Kritik von Russell Barkley

  • Bei Gina Pera veröffentlichter Kommentar von Russell Barkley[36] zu einem Blogbeitrag von Barry Kaufman:[37] „Auch, wenn dies in der Ratgeberliteratur - zuletzt von Mr. Kaufman - ständig wiederholt wird: Der postulierte Zusammenhang zwischen ADHS und Kreativität ist wissenschaftlich völlig unbelegt. Es gibt keine bedeutsame Korrelation zwischen ADHS (bzw. der jeweiligen Schweregrade) und erhöhter Kreativität. Einzelfälle, bei denen dies zutreffen mag, begründen Anekdoten, keine wissenschaftliche Evidenz [...]. ADHS ist eine ernstzunehmende Störung. Das Störungsbild romantisierend als 'Gabe' darzustellen, verdreht die Tatsachen - ADHS ist kein Gewinn für die Betroffenen. In nahezu allen der rund zehntausend Studien, die zu ADHS vorliegen, wird deutlich, dass die Störung von Beeinträchtigungen begleitet wird, und nicht von Vorteilen. Wir sollten uns stattdessen freuen, wenn einzelne ADHS-Betroffene es schaffen, trotz ihrer Einschränkungen erfolgreich zu sein“.

Klaus-Peter Lesch

  • „ADHS ist ein Extrem einer Persönlichkeitsvariante, das zunächst einmal gar keinen Krankheitswert besitzt [...]. Der hohe Energiepegel, der Enthusiasmus, sich mit einer Sache auseinanderzusetzen, die große Kreativität, die Fähigkeit zum Querdenken und der Gerechtigkeitssinn – all das sind Ressourcen, die für unsere Gesellschaft wichtig sind“.

Siehe auch

Film und Fernsehen

Weblinks

Deutsch

Englisch

Studien und wissenschaftliche Publikationen

Weitere interessante Artikel

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Einzelnachweise

  1. http://www.netdoktor.de/magazin/ads-und-kreativitaet-die-grenze-zwischen-krankheit-und-kunst-ist-verwischt/
  2. http://www.kersti.de/VB087.HTM
  3. http://www.rsbesigheim.de/content/images/content/_bilder/schulprofil/positives.pdf
  4. http://www.t-online.de/eltern/gesundheit/ads/id_41579238/ads-und-adhs-der-zappelphilipp-und-sein-potenzial.html
  5. http://www.paradisi.de/Health_und_Ernaehrung/Erkrankungen/Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom/Artikel/23638.php
  6. http://www.stress-gesundheit.de/
  7. http://gesundheitsseiten.de/start.php?nas=l,0400,0050&thema=ADS
  8. http://www.drhallowell.com/adhd-a-blessing-or-a-curse-educators-and-parents-can-help-students-with-adhd-succeed-in-school/
  9. http://adhs-muenchen.net/pages/adhs-erwachsene/besonderheiten-des-adhs-gehirns.php
  10. Piero Rossi (adhs.ch, offline): „Warum Menschen mit ADHS sehr kreativ sein könnten, es aber meistens nicht sind“
  11. https://adhdrollercoaster.org/adhd-news-and-research/dr-russell-barkley-on-adhd-and-creativity/
  12. Bipolar. Leben mit extremen Emotionen. Depression und Manie. – Ein Manual für Betroffene und Angehörige. München 2002, S. 131–138
  13. http://www.spektrum.de/news/gleiche-gene-fuer-kreativitaet-und-psychose-neigung/1349882
  14. https://web.archive.org/web/20090428095417/http://www.laum.uni-hannover.de/ilr/lehre/Ptm/Ptm_KreaGrdl.htm
  15. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/hdjb2001/0107/scroll?sid=124714f21013ab4ce5aa054188752618
  16. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/hdjb2001/0107/scroll?id=124714f21013ab4ce5aa054188752618
  17. https://www.researchgate.net/publication/236885449_Zentall_S_S_Kuester_DA_Craig_BA_2011_Social_behavior_in_cooperative_groups_Students_at-risk_for_ADHD_and_their_peers_Journal_of_Educational_Research_104_28-41
  18. http://isites.harvard.edu/fs/docs/icb.topic868772.files/1018CsikszentmihalyiChapter.pdf
  19. Edward De Bono: Laterales Denken: Der Kurs zur Erschließung Ihrer Kreativitätsreserven. Düsseldorf, Econ-Verlag, 1992, ISBN 3-612-21168-4.
  20. Howard Gardner: Extraordinary Minds. Portraits of Four Exceptional Individuals and an Examination of Our Own Extraordinariness. Basic Books, New York 1997, ISBN 0-465-02125-5.
  21. Csikszentmihalyi 1996, Runco 2007.
  22. http://totallyadd.com/wp-content/uploads/White_Shah_ADHDCreativity_PAID.pdf
  23. http://totallyadd.com/wp-content/uploads/White_Shah_ADHDCreativity_PAID.pdf
  24. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/27437006
  25. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/8464673
  26. http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2014-01/psychisch-krank-ADHS-erwachsene/seite-3
  27. goo.gl/uV93Ad
  28. http://www.wsj.com/articles/SB110738397416844127
  29. http://www.vice.com/de/read/ritalin-macht-dich-zum-roboter-271
  30. http://www.adhs.ch/adhs-kreativitaet/
  31. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/8464673
  32. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26820419
  33. http://icahn.mssm.edu/static_files/MSSM/Images/Research/Programs/Attention%20Deficit%20Hyperactivity%20Disorder%20Center/creativity.pdf
  34. http://neuroethics.upenn.edu/wp-content/uploads/2015/06/Creativity-Psychopharm.pdf
  35. http://neuroethics.upenn.edu/wp-content/uploads/2015/06/Creativity-Psychopharm.pdf
  36. https://adhdrollercoaster.org/adhd-news-and-research/dr-russell-barkley-on-adhd-and-creativity/
  37. https://blogs.scientificamerican.com/beautiful-minds/the-creative-gifts-of-adhd/